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19. Oktober 2016

Berufsgeheimnisträger und Seelsorger können spätestens ab Juli 2017 den verfassungsrechtlich und durch die EU-Charta für Grundrechte verbürgten Vertrauensschutz nicht mehr angemessen realisieren

Bundesgesetzgeber höhlt durch Vorratsdatenspeicherung den Schutz von Klienten, Patienten, Mandanten, Verbrauchern und Gläubigen bei vertraulicher Kommunikation unverhältnismäßig aus

Zwar schützt die aktuelle Rechtslage die Vertraulichkeit anonymer Telefonberatung. Das gilt aber nicht ausdrücklich auch für anonyme Onlineberatung. Und für die alltäglichen vertraulichen Kommunikationen der meisten Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Anwälte, Drogenberater, Psychologen, Psychotherapeuten, Schwangerschaftskonfliktberater, staatlich anerkannte Sozialpädagogen / Sozialarbeiter, Seelsorger usw. gibt es keine entsprechende Ausnahmeregelung. Die Ungleichbehandlung dieser Berufsgruppen, und von Telefonberatung gegenüber Onlineberatung, ist sachlich nicht begründbar. Die im Gesetz vorgesehene Vorratsdatenspeicherung bei Berufsgeheimnisträgern und Seelsorgern ist nicht verhältnismäßig und nach aktueller Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof wohl verfassungswidrig und europarechtswidrig.

 

Übersicht (mit Direktlinks)
Die aktuelle Rechtslage (Stand: Oktober 2016)
Verfassungswidrigkeit und Europarechtswidrigkeit
Aktuelle Handlungsmöglichkeiten
Links zu Meldungen und Initiativen zum Schutz der genannten Grundrechte

 

Die aktuelle Rechtslage (Stand: Oktober 2016)

Das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten (VerkDSpG) ist ein Bundesgesetz und gilt seit dem 18.12.2015. Als sogenanntes Artikelgesetz wurden damit zahlreiche Gesetze geändert: die Strafprozessordnung, das Telekommunikationsgesetz, das Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung, das Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz und das Strafgesetzbuch. Das gesamte Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ist hier zu finden: Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten

Für den gefährdeten Vertrauensschutz der Berufsgeheimnisträger sind vor allem die Änderungen/Ergänzungen des Telekommunikationsgesetzes (TKG), speziell die §§ 113b bis 113e und 113g und der Strafprozessordnung (StPO) relevant.

Fristen nach § 150 TKG: "Übergangsvorschriften"

"(13) Die Speicherverpflichtung und die damit verbundenen Verpflichtungen nach den §§ 113b bis 113e und 113g sind spätestens ab dem 1. Juli 2017 zu erfüllen. Die Bundesnetzagentur veröffentlicht den nach § 113f Absatz 1 Satz 2 zu erstellenden Anforderungskatalog spätestens am 1. Januar 2017."

Ausnahme bei anonymer Telefonberatung

Von der Speicherung ausgenommen ist unter bestimmten Voraussetzungen die anonyme Telefonberatung nach § 113b, Abs. 6 TKG:

"(6) Daten, die den in § 99 Absatz 2 genannten Verbindungen zugrunde liegen, dürfen auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden. Dies gilt entsprechend für Telefonverbindungen, die von den in § 99 Absatz 2 genannten Stellen ausgehen. § 99 Absatz 2 Satz 2 bis 7 gilt entsprechend."

In § 99 TKG, Abs. 2 TKG wird definiert, welche Beratungseinrichtungen ausgenommen sind:

"(2) Der Einzelverbindungsnachweis nach Absatz 1 Satz 1 darf nicht Verbindungen zu Anschlüssen von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen erkennen lassen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten und die selbst oder deren Mitarbeiter insoweit besonderen Verschwiegenheitsverpflichtungen unterliegen. Dies gilt nur, soweit die Bundesnetzagentur die angerufenen Anschlüsse in eine Liste aufgenommen hat. Der Beratung im Sinne des Satzes 1 dienen neben den in § 203 Abs. 1 Nr. 4 und 4a des Strafgesetzbuches genannten Personengruppen insbesondere die Telefonseelsorge und die Gesundheitsberatung. Die Bundesnetzagentur nimmt die Inhaber der Anschlüsse auf Antrag in die Liste auf, wenn sie ihre Aufgabenbestimmung nach Satz 1 durch Bescheinigung einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts nachgewiesen haben. Die Liste wird zum Abruf im automatisierten Verfahren bereitgestellt. Der Diensteanbieter hat die Liste quartalsweise abzufragen und Änderungen unverzüglich in seinen Abrechnungsverfahren anzuwenden. Die Sätze 1 bis 6 gelten nicht für Diensteanbieter, die als Anbieter für geschlossene Benutzergruppen ihre Dienste nur ihren Teilnehmern anbieten."

Die in § 99 TKG gemeinten Personengruppen nach § 203 Abs. 1 Nr. 4 und 4a Strafgesetzbuch (StGB):

"4. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist,
4a. Mitglied oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes,"

Für bestimmte Berufsgeheimnisträger ist nach § 100g Abs. 4 Strafprozessordnung (StPO) die Erhebung von Verkehrsdaten unzulässig und es gibt ein Verwendungsverbot:

"(4) Die Erhebung von Verkehrsdaten nach Absatz 2, auch in Verbindung mit Absatz 3 Satz 2, die sich gegen eine der in § 53 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 5 genannten Personen richtet und die voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diese das Zeugnis verweigern dürfte, ist unzulässig. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwendet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsache ihrer Erlangung und der Löschung der Aufzeichnungen ist aktenkundig zu machen. Die Sätze 2 bis 4 gelten entsprechend, wenn durch eine Ermittlungsmaßnahme, die sich nicht gegen eine in § 53 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 5 genannte Person richtet, von dieser Person Erkenntnisse erlangt werden, über die sie das Zeugnis verweigern dürfte. § 160a Absatz 3 und 4 gilt entsprechend."

Nachfolgend die Personen nach § 53 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 5 StPO:

"1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt

1. Geistliche über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
2. Verteidiger des Beschuldigten über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
3. Rechtsanwälte und sonstige Mitglieder einer Rechtsanwaltskammer, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater und Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Apotheker und Hebammen über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist; für Syndikusrechtsanwälte (§ 46 Absatz 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung) und Syndikuspatentanwälte (§ 41a Absatz 2 der Patentanwaltsordnung) gilt dies vorbehaltlich des § 53a nicht hinsichtlich dessen, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
3a. Mitglieder oder Beauftragte einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
3b. Berater für Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit in einer Beratungsstelle, die eine Behörde oder eine Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt oder bei sich eingerichtet hat, über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
4. Mitglieder des Deutschen Bundestages, der Bundesversammlung, des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland oder eines Landtages über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Organe oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst;
5. Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken, Rundfunksendungen, Filmberichten oder der Unterrichtung oder Meinungsbildung dienenden Informations- und Kommunikationsdiensten berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben."

 

Zuständige Behörde für Beratungseinrichtungen

Zuständige Behörde zum Eintrag in die Liste der ausgenommenen Beratungseinrichtungen ist die Bundesnetzagentur. Anträge sind dort auf der Homepage erhältlich: www.bundesnetzagentur.de

Die Bundesnetzagentur ist für die Veröffentlichung eines nach § 113f Absatz 1 Satz 2 TKG zu erstellenden Anforderungskataloges (bis 1. Januar 2017) zuständig. Was die konkrete Umsetzung der genannten Vorschriften angeht, können Berufsgeheimnisträger, Kammern, Seelsorger, Beratungseinrichtungen, Verbände und Kirchen dort Auskunft erhalten.

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Verfassungswidrigkeit und Europarechtswidrigkeit

Von dem Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten (VerkDSpG) werden Grundrechte tangiert: In Artikel 6 "Einschränkung eines Grundrechts" heißt es entsprechend:

"Durch die Artikel 1 und 2 dieses Gesetzes wird das Fernmeldegeheimnis (Artikel 10 des Grundgesetzes) eingeschränkt."

Darüber hinaus sind jedoch weitere Grundrechte durch das Gesetz betroffen:

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die beiden Grundrechte
     - Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz)
     - Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme
aus Art. 1  des Grundgesetzes (GG) "Schutz der Menschenwürde" und Art. 2  GG "Freie Entfaltung der Persönlichkeit" abgeleitet. (Vgl. BVerfG, Urteil vom 15.12.1983 - 1 BvR 209/83 u.a. - BVerfGE 65, 1 bzw. BVerfG, Urteil vom 27.02.2008 - 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07, BVerfGE 120, 274)

Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ist alle staatliche Gewalt an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Demnach müssen die Gesetze in Einklang mit den Grundrechten sein, und auch die Gesetzesauslegung muss grundrechtskonform erfolgen.

Als EU-Mitgliedsstaat ist in Deutschland auch die EU Charta der Grundrechte zu beachten:

Hier ist Kapitel II "Freiheiten" einschlägig:

Artikel 7 Achtung des Privat- und Familienlebens
Artikel 8 Schutz personenbezogener Daten
Artikel 11 Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
Quelle: EU Charta der Grundrechte (PDF)

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 08.04.2014 (C-293/12 und C-594/12) die bis dahin geltende Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Die darin enthaltene Begründung benennt es als problematisch, dass keine Ausnahmen für Berufsgeheimnisträger erfolgt sind:

"Zudem sieht sie keinerlei Ausnahme vor, so dass sie auch für Personen gilt, deren Kommunikationsvorgänge nach den nationalen Rechtsvorschriften dem Berufsgeheimnis unterliegen." (Rn. 58)
Quelle: EuGH-Entscheidung vom 08.04.2014 zur Vorratsdatenspeicherung

So ist davon auszugehen, dass die aktuellen Vorschriften des VerkDSpG in Bezug auf das Berufsgeheimnis europarechtswidrig sind.

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gilt es zu unterscheiden zwischen der verfassungsrechtlich relativ geschützten Privatsphäre und dem absolut geschützten, unantastbaren Kern höchstpersönlicher Lebensgestaltung. (Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.09.1989 - 2 BvR 1062/87 - BVerfGE 80, 367; außerdem: Urt. v. 03.03.2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR 084/99 - BVerfGE 109, 279, 314.)

Vertrauliche Beratung und Therapie gehören regelmäßig zur relativ geschützten Privatsphäre. Bei einer gesetzlichen Beschränkung der Grundrechte aufgrund des Schutzes anderer Grundrechte darf diese rechtliche "Schranke" jedoch nicht maßlos und unverhältnismäßig erfolgen, sondern ist wiederum durch eine sogenannte "Schranken-Schranke" zu begrenzen. Beim widerstreiten unterschiedlicher verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter bedarf es dabei jeweils einer Abwägung, wobei insbesondere die Verhältnismäßigkeit zu prüfen ist. Weiteres dazu ist nachzulesen in:

Wenzel, Joachim (2009): Schutz der Vertraulichkeit der Beratung durch verfassungsrechtliche, datenschutzrechtliche und strafrechtliche Schranken am Beispiel der §§ 16a, 61 SGB II. In: info also - Informationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht. 27. Jahrgang. Ausgabe 6/2009, S. 248-255. Onlinressource (PDF)

Der unantastbare Kern, wie beispielsweise bei Beicht- und Seelsorgegesprächen, darf danach in keinem Fall von staatlicher Gewalt angetastet werden, selbst dann nicht, wenn es um den Schutz anderer wichtiger Grundrechtsgüter geht.

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 02.03.2010 (1 BvR 256/08 / 1 BvR 263/08 / 1 BvR 586/08 , Absatz-Nr. 238), in der die Vorratsdatenspeicherung von 2007 für nichtig erklärt wurde, ein Beispiel dazu gegeben, wie grundsätzlich eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aussehen könnte:

"Verfassungsrechtlich geboten ist als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedoch, zumindest für einen engen Kreis von auf besondere Vertraulichkeit angewiesenen Telekommunikationsverbindungen ein grundsätzliches Übermittlungsverbot vorzusehen. Zu denken ist hier etwa an Verbindungen zu Anschlüssen von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten und die selbst oder deren Mitarbeiter insoweit anderen Verschwiegenheitsverpflichtungen unterliegen (vgl. § 99 Abs. 2 TKG)"
Quelle: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html

Dabei hat das BVerfG jedoch nur ein Beispiel gegeben, was durch die Worte "Zu denken ist hier etwa an" zum Ausdruck kommt. Statt darauf basierend eine sachgerechte Bearbeitung dieser Frage vorzunehmen, hat der Gesetzgeber eine Eins-zu-eins-Verwendung dieses Beispielkreises vorgenommen und damit gezeigt, dass er seiner verfassungsrechtlich gebotenen Abwägungsaufgabe nicht nachgekommen ist.

Eine sachgerechte Bearbeitung der vom Bundesverfassungsgericht monierten Problematik hat demnach an diesem Punkt im Gesetzgebungsverfahren nicht stattgefunden, wie auch die Einzelheiten des Gesetzes zeigen:

Anonyme Onlineberatung der in § 99 Abs. 2 TKG genannten Beratungsinstitutionen ist inhaltlich und vom zu schützenden Rechtsgut her nichts anderes als anonyme Telefonberatung. Die anonyme Beratung geschieht lediglich mittels eines anderen medialen Kommunikationskanals. Der verfassungsrechtliche Schutz ist somit identisch und die zu erfolgende Verhältnismäßigkeitsabwägung, in Bezug auf die gebotene Schranken-Schranke, darf nicht willkürlich abweichen.

Anonyme Telefonberatung wird nach § 113b, Abs. 6 TKG genannt, nicht aber anonyme Onlineberatung (z.B. Chat-, Mail und Forenberatung). Einen sachlichen Unterscheidungsgrund gibt es hierfür jedoch nicht, zumal nicht nur die über § 99 TKG einbezogene Jugend- und Drogenberatung (durch Benennung von § 203 Abs. 1 Nr. 4 und 4a StGB) immer häufiger online erfolgt. Zwar kann man eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend verstehen, dass die Kommunikation geschützt werden soll, unabhängig über welchen Kommunikationskanal sie realisiert wird. (Vgl. BVerfG, Urteil vom 27.02.2008 - 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07, BVerfGE 120, 274) Da hier der Grundrechtsschutz mit dem Gesetzeswortlauf aber nicht sichergestellt wird, ist eine normenklare Neuformulierung nötig.

Auch die Auswahl der ausgenommenen Personengruppen ist sachlogisch nicht nachvollziehbar und erscheint damit als willkürlich: Zahlreiche Berufsgeheimnisträger, die nach § 53 StPO sogar ein Zeugnisverweigerungsrecht vor Strafgerichten haben, werden hier nicht von der Speicherung ausgenommen (z.B. Psychotherapeuten), während andere davon ausgenommen werden (z.B. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater), die jedoch kein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Das Erhebungs- und Verwendungsverbot nach § 100g Abs. 4 StPO ändert an der nicht nachvollziehbaren Gesamtsituation nichts. Schließlich erhalten einige in § 99 TKG genannte Gruppen, die von der Speicherung ausgenommen werden, auch nach diesem Gesetz weiterhin kein Zeugnisverweigerungsrecht in § 53 StPO. Andere Berufsgruppen staatlich geförderter Beratung (z.B. durch Bund, Länder und Kommunen geförderte Schuldnerberatung) bleiben weiterhin völlig unberücksichtigt (selbst in § 203 StGB). Diese uneinheitliche Behandlung der Berufs-/Personengruppen und Institutionen zeigt, dass eine Gesamtabwägung in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit nicht sachgemäß erfolgt ist.

Im aktuellen Gesetz wird des Weiteren nicht ersichtlich, wie der absolut geschützte und damit unantastbare Kern intimer Lebensgestaltung in der Praxis geschützt werden soll (z.B. das Seelsorgegeheimnis).

 

Abwägung: Leben aktuell bewahren zu helfen hat Vorrang vor abstrakter künftiger Gefahrenabwehr

Anonyme Onlineberatung trägt regelmäßig dazu bei, Leben von verzweifelten suizidalen Menschen schützen zu helfen. Dabei geht es in Deutschland um die präventive Suizidverhütung von durchschnittlich 9.000 bis 10.000 vollendeten Suiziden pro Jahr und eine weit höhere Zahl versuchter Suizide. Eine Nicht-Nachverfolgbarkeit und damit eine tatsächliche Anonymität der Internetangebote (z.B. Speicherverbot der IP-Adresse) ist dabei für das Vertrauen in diese Beratungsangebote durch potenzielle Suizidenten eine konstitutive Voraussetzung eine Beratung überhaupt wahrzunehmen. (Vgl. "Anonyme Beratung" in der Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 27. Oktober 1998 - 1 BvR 1108/97, Rn. 232) Als Beispiel kann diesbezüglich das Angebot der Telefonseelsorge im Internet genannt werden; nachzulesen in:

Wenzel, Joachim (2016): Anonyme Beratung der Telefonseelsorge im Internet. Nicht-Nachverfolgbarkeit von Beratungskontakten als Ergebnis einer Güterabwägung. In: Hauschildt, Eberhard/Blömeke, Bernd D. (Hrsg.): Telefonseelsorge interdisziplinär. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 395-407

In dem genannten Aufsatz wird die fachliche und ethische Begründung für nicht-nachverfolgbare anonyme Beratungsangebote im Internet dargelegt sowie die verfassungsrechtliche Abwägung aufgezeigt, nach der eine abstrakt-zukünftige Gefahrenabwehr hinter der konkreten lebensbewahrenden Beratungsmöglichkeit zurückzustehen hat.

 

Fazit: Aktuelle Einschätzung

Das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten ist in der aktuellen Fassung (Oktober 2016) augenscheinlich europarechts- und verfassungswidrig, da eine Abwägung zwischen den verschiedenen Grundrechtsgütern nicht nachvollziehbar erfolgt ist. Auch ein Schutz der absolut geschützten Intimsphäre wird nicht deutlich. Die Grundrechte von Patienten, Klienten, Mandanten, Verbrauchern und Gläubigen werden dabei unverhältnismäßig eingeschränkt. Grundrechte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und der EU Charta der Grundrechte werden somit in Bezug auf das Berufsgeheimnis und das Seelsorgegeheimnis ungerechtfertigt verletzt.

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Aktuelle Handlungsmöglichkeiten

Handlungsmöglichkeiten auf der aktuellen Rechtslage basierend

  • Beratungsdienste, die anonyme Telefonberatung anbieten, sollten einen Antrag bei der Bundesnetzagentur stellen, sich in die Liste nach § 99 TKG eintragen zu lassen.
    Infos der Bundesnetzagentur zum Verfahren (inkl. Formular-Download als PDF)

  • Es ist zu beobachten, ob im Anforderungskatalog der Bundesnetzagentur (nach § 150 Abs. 13 TKG in Verbindung mit § 113f Absatz 1 Satz 2 TKG) auch die Nicht-Nachverfolgbarkeit anonymer Onlineberatung sicherstellt wird.

  • Beratungsdienste, die anonyme Onlineberatung anbieten, können bei der Bundesnetzagentur ebenfalls einen Antrag stellen (s. oben), um die Vorratsdatenspeicherung der bei Onlineberatung anfallenden Daten (z.B. IP-Adressen) verhindern zu lassen. Schließlich bieten sie ja ebenfalls die nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich zu schützende anonyme Beratung an, lediglich auf einem anderen Kommunikationskanal. Bei einer möglichen Ablehnung könnten die Anbieter mit dem Bescheid in das Widerspruchsverfahren gehen und eine verfassungsrechtskonforme Anwendung auch auf anonyme Onlineberatung einfordern. Bei einem ablehnenden Widerspruchsbescheid könnte die Einrichtung einen möglichen Klageweg juristisch prüfen lassen.

Handlungsmöglichkeiten zur Änderung der aktuellen Rechtslage

  • Öffentlichkeitsarbeit mittels Pressemeldungen und Nachrichten in Zeitschriften und auf Homepages kann Bewusstsein schaffen und für den Grundrechtsschutz von Klienten, Patienten und Mandanten sensibilisieren.

  • Politisch wäre es wichtig, die hier dargelegte Problematik bei Parteien, Fachpolitikern und den zuständigen Politikern vor Ort in den Blick zu bringen.

  • Berufsverbände von Berufsgeheimnisträgern, Kirchen, Kammern, Beratungsverbände, Therapieverbände und Wohlfahrtsverbände und Verbände von betroffenen Klienten-, Patienten- und Mandantengruppen könnten mögliche Klagewege juristisch eruieren.

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Autor

Dr. Joachim Wenzel

Mainz, 19. Oktober 2016,
Netzwerk Vertraulichkeit & Datenschutz in der Beratung

 

 

Links zu Initiativen zum Schutz der genannten Grundrechte

Erste Verfassungsbeschwerde gegen neue Vorratsdatenspeicherung
Klage von Burkhard Hirsch, Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Portale zur Netzpolitik

https://netzpolitik.org/
https://gruen-digital.de/
http://www.golem.de/specials/netzpolitik/
https://www.heise.de/thema/Netzpolitik 

 

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Gerne können Sie weitere Initiativen und Nachrichten dazu melden:
wenzel@spi-mainz.de

 

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